Pssst…es gibt ihn doch

Weihnachtsvernissage Falteinl. hinten
Ich möchte eine meiner allerliebsten Weihnachtsgeschichten mit Euch teilen. Schon seit vielen Jahren habe ich sie anlässlich verschiedenster Gelegenheiten zu Weihnachten vorgelesen. Es ist eine eher unkonventionelle Weihnachtsgeschichte, geschrieben von der Schauspielerin Heike Makatsch. Natürlich habe ich mir von ihrer Agentur die Erlaubnis eingeholt, die Geschichte hier veröffentlichen zu dürfen und danke ganz herzlich für die Zusage! Vielleicht habt Ihr mal Zeit, sie in Ruhe zu lesen.
Ich wünsche Euch allen ein friedvolles Weihnachtsfest, etwas Ruhe und Musse zwischen den Jahren und dann einen guten Rutsch in ein gesundes, glückliches und kreatives neues Jahr. Vielen Dank an alle Leserinnen und Leser dieses Blogs! Über 500 Leute klicken monatlich meine Homepage an und es werden täglich mehr.

Pssst…es gibt ihn doch - den Weihnachtsmann. Diese Geschichte ist der Beweis.
(Eine Weihnachstgeschichte von Heike Makatsch)
Flo hielt den Atem an. Um ihn war es stockdunkel, so dass er mit kreisenden Fußbewegungen die letzte Stufe der Kellertreppe ertasten musste. Der Lichtschalter befand sich im Gang links von ihm. So viel wusste er, obwohl er sich hier unten gar nicht auskannte. Er vermied es nämlich, in den Keller zu gehen, der Keller machte ihm Angst. Flo verzog sein Gesicht, als er die feuchte Wand befingerte. Wo war denn der kleine Plastiknippel? Sicher saß gleich daneben schon eine dicke Spinne, die nur darauf wartete, ihre giftigen Hauer in seine zarten Kinderhände zu versenken.
Obwohl! Bald schon sind sie die Hände eines Teenagers. Noch genau 24 Stunden, dann würde er 13 Jahre alt sein. Am 24.12.2005. Jedes Jahr feierte er gemeinsam mit Jesus Christus - ob das ein Segen war oder Schicksal, darüber hatte er immer noch nicht entschieden. Aber egal, in diesem Moment war Flo noch 12 und hatte verdammten Bammel vor den unbekannten Räumen, den haarigen Spinnen und all dem anderen Gekreuch und Gefleuch, das ihm in den mannigfaltigen Verstecken des muffigen Gewölbes sicherlich schon auflauerte.

Wenn er doch nur schon entdeckt hätte, wonach er suchte! Dann könnte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, zurück in die Sicherheit der Elternwohnung im zweiten Stock entfliehen. Natürlich ohne viel Aufsehen zu erregen, auch nicht bei den Nachbarn. Niemand durfte wissen, dass Flo heute, einen Tag vor Weihnachten, im gemeinsamen Keller herumschnüffelte. Es war ihm von seiner Mutter vor einer Woche ausdrücklich verboten worden. Und seither konnte er an nichts anderes mehr denken.

Das Fahrrad seiner Träume,
das Flo im Keller vor ihm versteckt wähnte, war ein silbernes Rennrad, ein Fliegengewicht mit 21er-Gangschaltung, im besten Fall Shimano. Er brannte dafür, körperlich, er musste es einfach besitzen. Selbst als er sich kürzlich verliebt fand, in Frauke, die nach ihrem ersten gemeinsamen Kuss an der Bushaltestelle nie wieder mit ihm sprach, äußerte sich das schmerzhafte Ziehen in der Herzgegend nicht mit der gleichen Vehemenz. Denn von diesem silbernen Pfeil hing für Flo das gesamte Potenzial seines innerschulischen Status ab. Das Fahrrad könnte ihm Türen und Tore öffnen. Die Jungs würden ihm mit anerkennendem Neid, die Mädchen mit schwärmerischer Bewunderung hinterherstarren, wenn sie sähen, wie er tagtäglich damit lässig in den Schulhof einrollen würde. Seine schwach entwickelten Wadenmuskeln nähmen endlich die erwünschten männlichen Formen an, seine gebückte Haltung, während er expertenhaft zwischen den Gängen schaltete, gäben ihm unaufdringlichen Sexappeal. Die Einsamkeit des Cowboys auf dem silbernen Drahtesel würde ihm gut stehen, da war er sich sicher.

Als Flo all dies dachte, schämte er sich wegen seiner Eitelkeit, bemerkte aber auch, dass seine Handinnenflächen vor Erregung feucht geworden waren. Und sein Herz hüpfte laut, weil er wusste, dass ihn sein geliebtes Fahrrad unverwundbar machen würde. Selbst Maik würden die Worte fehlen, um Flo wieder einmal vor versammelter Mannschaft als Idioten dastehen zu lassen...

Während Flo endlich den ersehnten Kippschalter ertastete, musste er grinsen. Er erinnerte sich an Maiks ungläubigen Gesichtsausdruck, als Flo ihm von seinem neuen Bike erzählt hatte! Etwas voreilig, ja, vielleicht, hatte er in der großen Pause sein silbernes Rennrad schon angekündigt, von den Pirellireifen, dem Titangestell geschwärmt. Aber er war ja hundertprozentig sicher, dass seine Eltern begriffen hatten, was für ihn von diesem Weihnachtsgeschenk abhing. Auch wenn die beiden immer wieder betonten, dass sie die alljährliche weihnachtliche „Konsumschlacht" in keiner Weise befürworteten. Hier ging es nicht um willkürlichen Materialrausch, hier ging es um die Grundbausteine von Flos sozialer Existenz!

Die von der Kellerdecke baumelnden Glühbirnen erhellten nun endlich Flos Sicht auf mehrere identische Holztüren, die jeweils durch rostige Vorhängeschlösser verriegelt worden waren. Er war sich nicht einmal sicher, welche der Türen zu seiner Familie gehörte, und lugte, so gut es ging, durch die engen Ritzen zwischen den zusammengenagelten Brettern, die ein Kellerabteil von dem des Nachbarn trennten. In der Hoffnung, vielleicht die Rundung eines schmalen Reifens oder die Ahnung eines Lenkers zu erspähen. Nachdem Flo neben braunen Umzugskartons, alten Waschmaschinen und gestapelten Sofaecken auch nicht das geringste Stück Silber blitzen sah, sich Sorge schon in Panik zu wandeln begann, bemerkte er, dass der lange Kellergang an seinem Ende noch eine Wendung nahm. Und plötzlich war ihm klar: Sein Rad würde dort stehen, gleich um die Ecke, zweifellos. Siegessicher marschierte Flo nun los -und traute seinen Augen nicht.

Ja, in dem schäbigen, lichtlosen Erker stand einsam, stolz und niegelnagelneu ein glänzendes Fahrrad. Aber es erstrahlte in einer quietschroten Lackierung, der Rahmen war behäbig, von einer Herrenstange keine Spur! Hinten und vorn wurden die dicken Reifen von schwarzen Schutzblechen aus Plastik bedeckt, eine vermeintlich lustige, klobige Klingel schmückte den Lenker, dessen Griffe mit geschmacklosem Schaumgummi verkleidet waren. Entsetzt erkannte Flo die Dreigangschaltung, die verkehrssichere Lichtanlage, den praktischen Gepäckträger samt Korb, in dem er wohl in Zukunft die Lauchstangen für den Sonntagseintopf transportieren sollte! Der Fahrradständer und das Zahlenschloss machten das Bild des Grauens perfekt. Wo er von einem stolzen Zuchtschimmel zu träumen wagte, stand nun vor ihm ein einfältiger Maulesel. In Flos Schläfen pochte das Blut, und er spürte, wie sich Trockenheit in seinem Mund ausbreitete. Weiße Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen, die Schwummerigkeit, die ihn überkam, zwang ihn, sich auf seine Knie sacken zu lassen. Während Flo nun seinen schwirrenden Kopf in die Hände stützte, unfähig, einen weiteren Blick auf diese Schmach, die sich Fahrrad nannte, zu werfen, liefen heiße Tränen über seine rotgefleckten Wangen. Als ob sich die gesamte Vorfreude unter umgekehrtem Vorzeichen entladen wollte, fing er mit einem Mal unkontrolliert an zu schluchzen. Wie konnten seine Eltern ihm so etwas antun? Wie konnte ihn der liebe Gott, mit dessen Sohn er seinen Geburtstag teilte, so im Stich lassen?

Was nun geschah, ging ganz schnell. Wut, Frustration und nackte Angst hatten sich
des kleinen Flos bemächtigt, er konnte kaum mehr aus den verquollenen Augen schauen, als er mit hektischen Bewegungen sein Taschenmesser aus der Tasche seiner Jeans hervorkramte. Er klappte es auf und stach zu, wieder und wieder, bis der letzte Atemzug aus den Reifen gewichen war. Pfffffff. Mit diesem Rad war Flo fertig. Es konnte ihm nichts mehr antun. Einen letzten angewiderten Blick warf er auf das rote Gestell mit den traurigen Platten, das nun aussah wie eine Matrone im Taftkleid, die ihre Stöckelschuhe zum Tanzen ausgezogen hat. Bemitleidenswert. Dann jagte er die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, aber nicht in die elterliche Stube, sondern erst mal raus, einfach nur raus. So weit ihn die Füße trugen.

Erst Stunden später kehrte Flo nach Hause zurück. Er verbrachte den Abend, indem er sein schlechtes Gefühl hinter einer dicken Mauer aus Trotz verbarg. Die Unterlippe vorgeschoben, Schultern bis hoch zu den Ohren gezogen und den Blick verdunkelt, so zeigte sich Flo seinen verwunderten Eltern, die nicht recht schlau aus ihm wurden.

Unverändert missmutig
stocherte er am Mittag des 24.12.2005, dem Tag, der Weihnachten und seinen eigenen Geburtstag in einem Freudentaumel vereinen sollte, in der Lasagne herum, die seine Mutter ihm Jahr für Jahr, dekoriert mit bunten Kerzen, als Geburtstagstorte servierte. Diese war der festen Ansicht, ihr Sohn ginge durch frühpubertäre Schwankungen, und bemühte sich, ihn in eine den Umständen angemessenere Stimmung zu versetzen. „Übrigens, Florian, mein Lieblingssohn", frotzelte sie fröhlich, „falls es dir entgangen ist, heute gibt's Gründe en masse, guter Laune zu sein."

Flo schaute nicht von seinem Teller auf. „Soll ich sie dir aufzählen?", flötete seine Mutter, die nicht vorhatte, sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Also, da wären: Du hast heute Geburtstag! Ich habe dir deine Leibspeise mit viel Liebe zubereitet. Dein Vater freut sich schon seit Stunden, mit dir in Ruhe den Weihnachtsbaum zu schmucken ...", Flos Mutter scheiterte erneut bei dem Versuch, ihn mit einem gewinnenden Lächeln aus der Reserve zu locken, „... mit all dem neumodischen Gedöns, das wir auf deinen Wunsch hin angeschafft haben. Und außerdem wartet auf dich heute Abend noch eine riesige..."
„Mensch, Mama!", schnitt Flo ihr unwirsch das Wort ab. „Jetzt lass mich mal..."
Das Gesicht seiner Mutter verdunkelte sich, aber ihre Verletzung wich schnellstmöglich einer mitfühlenden Sorge.
„Flo, ist es etwa immer noch wegen dieser Frauke? Weil wenn, dann möchte ich dir nur kurz dazu sagen, dass..."
Flo rollte demonstrativ seine Augen gen Himmel.
„Darf ich in mein Zimmer?", fragte er gedehnt. Seine Mutter nickte nur stumm. Gegen den Sturm der Hormone kam sie nicht an.
Als Flo sich in seinem Zimmer aufs Bett warf und gerade verzweifelt den Kopf unter dem Kissen vergraben wollte, hörte er ihre Stimme noch einmal aus der Küche rufen.
„Flo-ho! Heut Abend gibt's ein Trostpflaster, das flickt auch gebrochene Herzen!" Ach, Mama, wenn du wüsstest...

Der unvermeidbare
Weihnachtsabend rang Flo eine schauspielerische Meisterleistung ab, denn alles kam anders, als er es sich, mit Kissen über dem Kopf, seit Stunden ausgemalt hatte. Keine tränenüberströmte Mutter, kein schimpfender Vater, kein misshandelter Drahtesel und auch kein reuiger Sohn. Stattdessen ein schillernder Tannenbaum, duftende Ente mit würzigem Rotkohl, mehrstimmiger Gesang kurz vor der Bescherung und ein silbernes Rennrad mit 21 erGangschaltung samt übergroßer Schleife. Dazu ein Sohn, der laut "Wieso?" ausrufen wollte, es aber dennoch schaffte, ein überzeugendes „Wow!!" hervorzuzwingen.
„Danke, hey!", brachte Flo mit strahlendem Lächeln, aber fragenden Augen zustande. Die Eltern waren über ihre eigene Gabe so gerührt, dass sie seine Verwirrung gar nicht wahrnehmen wollten. Flos Mutter musste sich gar eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.
„Das hast du nicht gedacht, was? Jetzt ist aber endlich Schluss mit Liebeskummer!" Sie breitete die Arme aus und vergrub Flos Gesicht in ihrer Achselhöhle, was ihm ganz recht war.
„Danke, danke, danke. Wahnsinn!", murmelte er in den verschwitzten Kaschmirpullover seiner Mutter, in der Hoffnung, sie würde ihn nie wieder loslassen.

Flo verbrachte den Abend mit den Gedanken weder bei seinem silbernen Flitzer noch bei Maik, Frauke oder dem Schulhof. Selbst die zähen Runden Trivial Pursuit, die er mit seinen Eltern ausfocht und die ihn üblicherweise zum ehrgeizigen Tier machten, konnten ihn nicht vor der Frage bewahren: „Wem habe ich diese Weihnacht versaut?" Wie ein Bleimantel drückte diese Last ihn nieder, und zerknirscht nahm er zur Kenntnis, dass er bei allem, was er die letzten Tage tat, dachte und fühlte, nur sich selbst gesehen hatte. Nicht seine Mutter, die er mit seinem Fahrradmord schwer verletzt hätte, wenn das rote Ding doch für ihn bestimmt gewesen wäre, seine Schulfreunde noch weniger, die neben ihm und seiner Angeberkarosse von nun an einen schweren Stand haben würden - und erst recht nicht die Möglichkeit, dass das Fahrrad aus dem Gemeinschaftskeller, das offensichtlich keine Ähnlichkeiten mit seinem Wunschzettel gehabt hatte, jemand ganz anderem eine Freude machen sollte! Wie traurig musste es zu dem Zeitpunkt, da Flo von seinen Eltern geliebt, beschenkt und verwöhnt wurde, bei der Familie des Opfers aussehen. Bei der dicken Matrone im knalligen Taftkleid, die von ihm geschändet worden war, nur weil er sich mit ihr nicht die erhoffte Bewunderung hätte erkaufen können. Sicher stand Fassungslosigkeit in all ihren Gesichter, darüber, dass zum Fest der Liebe so viel Hass wüten konnte. Flo selbst war fassungslos, sogar die Beziehung zu dem Objekt seiner Begierde schien gestört. Hochmütig schaute das silberne Ross ihn an, während es lang-gliedrig und elegant an der Wand lehnte, sich seines Werts bewusst. Flo errötete, als ertappte er sich beim Flirt mit dem Mädchen seines besten Freundes.

Die ersten Sonnenstrahlen
weckten Flo am nächsten Morgen aus seinem unruhigen Schlaf. Mit einem Schlag erinnerte er sich an seine heimliche Geliebte, die nebenan im Wohnzimmer lasziv und ungeduldig auf ihn wartete. Einen schuldigen Nachgeschmack konnte er auch noch ausmachen, er versuchte, ihn zu ignorieren, er würde schon verblassen. Was geschehn ist, ist geschehn. Es tat ihm ja auch Leid... In Sekundenschnelle schlüpfte er in Jeans und Pulli, wuschelte sich durch das platt gelegene Haar und tapste eilig über herumliegendes Geschenkpapier, den heruntergebrannten Adventskranz, vorbei an dem erblassten Weihnachtsbaum und dem Tisch mit dem abgegessenen Vogelgerippe, um sich seine Freundin aus der Nähe anzusehen. Ach, sie war wunderschön, makellos, nicht wie dieses rote... Da war es schon wieder! Das Fahrrad im Keller, mit schlappem Gummi auf den Felgen, der Reifen hing nur noch in Fetzen! Die Erinnerung durchschoss ihn wie ein Elektroschock, er musste sich kurz schütteln, um den Gedanken loszuwerden.

In der Hoffnung, ein Ritt auf dem silbernen Rad würde ihn ablenken, womöglich sogar vergessen lassen, schleppte er das Fliegengewicht leise durch den Hausflur die Treppe hinunter, auf den glatten Asphalt, und schwang sich auf den harten ledernen Sattel. Alles stimmte. Seine Füße schlüpften mühelos in die Pedalkappen, mit leichten Bewegungen erzielte Flo ein butterweiches Vorankommen, die dünnen, prall aufgepumpten Reifen schwebten auf der ebenen Straße dahin. Vorsichtig betätigte Flo die komplexe Gangschaltung, und unmerklich sprang die Kette von einem Zahnrad auf das nächstgrößere über. Ach, herrlich! Durch die kleinen Vorstadtstraßen segelte Flo immer schneller, sicherer, wagemutiger in Richtung Flusspromenade. Dort angekommen gab es kein Halten mehr, er jagte vorbei an den ersten Spaziergängern des Tages, im Wettlauf mit dem winterlichen Wind und den Lastschiffen, die neben ihm den Rhein hinunterschipperten.

Genauso hatte Flo es sich vorgestellt, dieses Gefühl hatte er sich so lange gewünscht, wenn doch nur nicht das rote... Nein! Nicht schon wieder! Der dumme Gedanke an das dumme rote Fahrrad, das der dumme, dumme Flo auf dem Gewissen hatte! Als nähme die Pein der erneuten Erinnerung ihm jeglichen Rückenwind, rollte Flo nun langsamer dahin. Mit bleiernen Beinen und lähmender Lustlosigkeit strampelte er die Anhöhe hinauf, die ihn zurück nach Hause rühren sollte.

Am Eingang seiner Straße
bremste Flo scharf und erstarrte. Das durfte doch nicht wahr sein! Vor der eigenen Haustür stand der verdammte rote Rahmen kopfüber auf dem Sattel! Auf dem Bordstein daneben fröstelte die kleine Marlis, die in der Wohnung unter Flo wohnte und wie immer ihre große Brille trug, das linke Auge mit einem Pflaster zugeklebt. Marlis war mit ihren neun Jahren eine ganze Ecke jünger als Flo, aber genauso groß. Dünn und schlaksig kam sie daher, mit knubbeligen Knien wie ein Fohlen, dessen Beine zum Stehen noch zu wackelig waren. Abwechselnd hauchte sie sich in die rot gefrorenen Hände und tippelte von einem Fuß auf den anderen, während sich ein junger Mann mit allerlei Werkzeug an den baren Felgen zu schaffen machte. Obwohl die Szene friedlich anmutete und Flo glaubte, Marlis' Gesichtchen leuchten zu sehen, gab es für ihn nur eine Lösung: Nichts wie weg. Er wollte sich ungesehen aus dem Staub machen, nicht über sein Weihnachtsgeschenk reden müssen, das unter seinem Hintern glänzte, und auch kein falsches Mitleid heucheln.
„Flo!!!" Mist. Das war Marlis' kleine Stimme. Flo hörte ihre dicken Winterschuhe auf dem Bürgersteig näher kommen.
„Flo! Warte!" Was sollte er tun? Abhauen ging nicht mehr. Zu spät, er saß in der Falle. Während Marlis auf ihn zukeuchte, drehte Flo sich mit falschem Lächeln zu ihr um.
„Hey, Marlis", Flo tat überrascht. „Na? Frohe Weihnachten...!"
Marlis sah ihn mir ihrem einen aufgerissenen Auge durch die dicken Brillengläser an. Sie strahlte.
„Flo! Flo!", Marlis flüsterte ihm aufgeregt zu, kleine Spuckeklümpchen formten sich in ihren durchgefrorenen Mundwinkeln. „Es gibt ihn doch!" Während Marlis ihn triumphierend ansah, verstand Flo kein Wort.
„Wen?" - „Den Weihnachtsmann!!" Marlis' Stimme überschlug sich fast, so begeistert war sie, mit Flo dieses Geheimnis zu teilen. „Ach... ja?" Flo hatte Angst. Er wusste nicht, was als Nächstes kommen würde.
„Und er hat mein Fahrrad kaputt gemacht!" Flo starrte. Marlis war übergeschnappt. „Wieso... äh... sollte er so etwas tun?", kam es zögerlich von Flo.

„Meine Mutter,
die hat mir ein rotes Fahrrad gekauft, genau so eins, wie ich es mir gewünscht habe", sprudelte es aus Marlis hervor, „und der Weihnachtsmann hat es kaputt gemacht! Daraufhin musste meine Mutter meinen Vater anrufen, er wohnt ja am anderen Ende der Stadt, damit er vorbeikommt und mir's repariert..." Marlis zeigte mit einer Kopfbewegung zu dem jungen Mann, der mit einem Kraftakt einen neuen Schlauch auf die Fahrradfelge zog. Neben ihm stand nun Marlis' Mutter, die ihm offensichtlich zum Aufwärmen einen Tee gebracht hatte und in deren Augen Flo ein ungekanntes Funkeln entdeckte. Mit einem breiten Grinsen faltete Marlis nun ihre Ärmchen vor der Brust und sog zufrieden die kalte weihnachtliche Luft ein.
„Das war gestern. Und seitdem ist er nicht wieder gegangen!"